Vorwort

Im XII. und zu Anfang des XIII. Jahrhunderts vollzog sich in großem Umfang die Wahl der die Familien unterscheidenden Namen, während bis dahin nur Vornamen, allenfalls patronymische Zunamen oder ein augenfälliges Kennzeichen andeutende Beinamen gebräuchlich waren.
Die hervorragenderen Geschlechter zeigten in der damaligen Zeit die Vorliebe, sich den Ortsnamen ihres Hauptbesitzes mit dem verbindenden „von“ in der Bedeutung „aus“ zuzulegen. Die Ortsnamen sind also älter als jene der Geschlechter; und es brauchen die Geschlechter gleichen Namens nicht gleicher Abstammung zu sein, wenn sie deren Namen von gleichnamigen, aber verschiedenen Ortschaften abgeleitet haben; wohl aber können Geschlechter verschiedenen Namens denselben Stammvater besitzen, vorausgesetzt, dass sich dies aus ihrem Besitz, ihren Vornamen und Wappen erweisen lässt.

Mag das Geschlecht von Wintzingerode mit dem der Rust oder einem anderen identisch sein, mag es zufälligerweise von dem Witzo abstammen, der das Dorf Witzungen und dessen Nachkommen den Ort Wintzingerode begründeten, jedenfalls ist die Ortsbezeichnung älter als der Familienname und nur unter Zugrundelegung dieser Tatsache lohnt es sich, Vermutungen über die Entstehung des Familien­namens Wintzingerode anzustellen.
Alle die Märchen von einem Ahnherren Johann, der aus der rebenreichen Pfalz, dem Dorfe Winzingen (Vincinna) mit der noch heute bestehenden Burgruine im Hardtgebirge im Jahre 1324 nach dem rauhen Eichsfeld gezogen sei, oder von dem aus Böhmen eingewanderten Wenden Wirt oder Wischeroth, der zu Wintzingerode seine Stammesgenossen angesiedelt habe, oder gar von dem „Stammhaus Winzingerode in Hessen, hart an dem Waldeckischen gelegen“, einem im ersten Viertel des XIV. Jahrhunderts (wahrscheinlich von einem Wintzingerode gegründeten Dorf) kam man man nur wiedergeben als Beispiele dafür, zu welchen phantastischen Erfindungen man seine Zuflucht nahm, um ein altes Geschlecht einige Jahre älter erscheinen zu lassen oder gar aus der vornehmeren Fremde einwandern zu lassen. Auch alle Hypothesen, die einen Witzo, Winzo, Winize, Wisco – in braunschweigischen, thüringischen und mainzischen Urkunden vielgenannte Vornamen des XI. und XIII. Jahrhunderts – zum Stammvater derer von Wintzingerode machen wollen, müssen fallen gelassen werden.

(s. Wilhelm Clothar Frhr. von Wintzingerode, Geschichte der Familie im Mittelalter, Gotha 1913, S. 1 ff.)